Ordnungspolitik und soziale Marktwirtschaft
Nach dem II. Weltkrieg wurden die ordoliberalen Ideen der Freiburger Schule direkt in die westdeutsche Wirtschaftspolitik übertragen. Zwar konnte Deutschland zunächst keine unabhängige Wirtschaftspolitik betreiben, denn es unterstand den vier Besatzungsmächten. Seit 1948 änderte sich dies aber schrittweise.
Die wirtschaftlichen Bedingungen von 1945 bis 1948 waren durch materiellen Notstand, das Problem der Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem deutschen Osten sowie dem Abbau eines Teiles der Industriewerke als Wiedergutmachung für den Krieg gekennzeichnet. Außerdem kam es zur Entflechtung von Kartellen und Konzernen. Insbesondere ist die Dekartellisierung der Bereiche zu nennen, die als ökonomisches Rückgrat der nationalsozialistischen Kriegsmaschine angesehen wurden, nämlich die IG Farben und die Vereinigten Stahlwerke. Aus den westlichen Zonen entstand während dieser Jahre zunächst die Bizone (amerikanisch und britisch), später durch Angliederung der französischen Zone die Trizone und schließlich 1949 die Bundesrepublik Deutschland.
Video des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie - "Auf einmal gab es alles" - 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft.
Wählen Sie einen Button aus, um zum gewünschten Text zu kommen:
Bereits im Jahr 1948 wurde Ludwig Erhard, der spätere deutsche Wirtschaftsminister und Kanzler, zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets (Bizone) ernannt. In dieser Funktion führte Ludwig Erhard am 20. Juni 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands die Währungsreform durch. Dabei gelang es ihm - ohne zuvor die Zustimmung der Militärregierungen einzuholen – mit der Geldreform eine umfassende Wirtschaftsreform zu verbinden. Für Erhard bestand der Zweck der Währungsreform darin, eine Initialzündung für die deutsche Wirtschaft zu erbringen. So mussten nicht nur Geldmenge und Güterangebot in Einklang gebracht werden, es sollte sich auch wirklicher Handel entfalten. Dem standen aber die bestehenden Bewirtschaftungsmaßnahmen und Preisbindungen entgegen. Konsequenterweise hob Erhard die Bewirtschaftung für industrielle Erzeugnisse bereits zum ersten Werktag nach der Währungsreform auf. Das bedeutete, dass bereits für die erste Rate des Kopfgeldes vom Sonntag am Montag früh freigegebene Güter wie z.B. Haushaltsartikel aus Holz und Glas, Schreib- und Nähmaschinen, Automobile, Fahrräder etc. erworben werden konnten. Die Freigabe der weiteren Preise erfolgte konsequent aber behutsam. Um z.B. unnötige Preissteigerungen bei Lebensmitteln zu verhindern, blieben hier vorerst Höchstpreisvorschriften bestehen.
Die Erfolge der Währungsreform waren eindeutig: Bereits am ersten Tag waren die Schaufenster gefüllt mit Waren, es entwickelte sich ein reger Handel, die Schwarzmärkte verschwanden. Daneben traten aber auch erhebliche Preissteigerungen auf. Außerdem bestand eine erhebliche Arbeitslosigkeit. Entsprechend war die Meinung der Öffentlichkeit über Erhards Reformen nach einigen Wochen noch sehr geteilt. Dennoch war die Währungsreform der erste Schritt beim Übergang zur Marktwirtschaft im Westen Deutschlands.
Als Ludwig Erhard Wirtschaftsminister in einer Koalitionsregierung aus CDU und verschiedenen kleineren konservativen bzw. liberalen Parteien wurde, popularisierten er und sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack das neue, auf den Ideen des Ordoliberalismus basierende Wirtschaftssystem, welches nun „Soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde. Da sich in dieser Zeit die wichtigste Oppositionspartei, die SPD, größtenteils der Marktwirtschaft widersetzte und das kommunistische Ostdeutschland einen Propagandakrieg gegen die Marktwirtschaft führte, wurde die Etikette „sozial“ wichtig um die positiven sozialen Konsequenzen der Marktwirtschaft zu demonstrieren. Erst 1959 akzeptierte die SPD die Marktwirtschaft in ihrem neuen Parteiprogramm.
Da die Einführung der „Sozialen Marktwirtschaft“ ein großer Erfolg war, wurde die damit verbundene Expansion der deutschen Wirtschaft sogar als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet, ein Begriff, den Ludwig Erhard nie besonders mochte.
Es ist der langjährigen Konsequenz Erhards zuzuschreiben, dass die Umsetzung seiner ordnungspolitischen Ideen zumindest weitestgehend gelang. Bereits 1949 bekämpfte der Bundesverband der Deutschen Industrie die Wettbewerbspolitik Erhards, amerikanische Wirtschaftsberater forderten nach dem Ausbruch des Korea-Krieges die sofortige Beendigung der Außenhandelsliberalisierung und die Rückkehr zu Bewirtschaftungsmaßnahmen. Für Erhard kam dies alles jedoch nicht in Betracht. Er meinte, bei der Herstellung der marktwirtschaftlichen Ordnung gehe es um eine Grundsatzentscheidung, die keinen Kompromiss vertrage, welcher von organisierten Interessengruppen bestimmt würde.
Auf dem Weg zur Sozialen Marktwirtschaft hatte Ludwig Erhard deshalb auch einige Niederlagen zu erleben, z.B. die Schaffung eines Ausnahmestatus für die Landwirtschaft in der EWG. Auch ist es bezeichnend, dass das Fundament der Wettbewerbswirtschaft, nämlich die Garantie des Wettbewerbs durch ein Wettbewerbsgesetz, sich als schwieriges Unterfangen erwies. Erst 1958, zehn Jahre nach Beginn der Marktreformen, konnte das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ in Kraft treten. Das zeigt, dass das Modell der Sozialen Marktwirtschaft, wie es von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack auf Basis des ordoliberalen Ordnungsgedankens kreiert wurde, nicht mit der wirtschaftspolitischen Realität in Westdeutschland verwechselt werden darf. Bereits während der 50er Jahre entfernte sich die ökonomische Wirklichkeit immer mehr vom ordoliberalen Ideal. Seitdem hat sich kontinuierlich eine Abwendung vom Prinzip der universellen Regeln der Marktwirtschaft in Deutschland vollzogen. Während in der ersten Phase der Sozialen Marktwirtschaft die meisten Gesetze einfachen Wesens und universell in der Anwendung waren, beschäftigten sich die deutschen Regierungen immer mehr – und heute fast ausschließlich - mit Spezialfällen und besonderen Interessengruppen. Deutschland entwickelte sich zum Wohlfahrtsstaat.
In einem Interview aus dem Jahre 1963 äußert sich Ludwig Erhard über die Soziale Marktwirtschaft wie folgt:
Quellen / Literatur:
Schlecht, Otto; Stoltenberg, Gerhard (Hrsg.) – Soziale Marktwirtschaft: Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven, Freiburg 2001.
Im Westen Deutschlands wurde seit 1948 ein erfolgreiches marktwirtschaftliches System, die „Soziale Marktwirtschaft“, basierend auf den Überlegungen der Freiburger Schule und des Ordoliberalismus aufgebaut. Seitdem hat sich das deutsche Wirtschaftssystem aber erheblich verändert.
Der ordnungspolitische Ansatz hat bereits vor Jahrzehnten viel von seinem Einfluss auf die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland verloren. Stattdessen wurde der in der westlichen Welt moderne Keynesianismus seit der Wirtschaftskrise 1966/67 (mit 2,1% Arbeitslosigkeit!) und dem daraus resultierenden politischen Wechsel als Instrument zur Verbesserung der langfristigen Wirtschaftsentwicklung angesehen. Seit diesem Jahr bildete das „Stabilitätsgesetz“ die neue Basis der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik. Es ist charakterisiert durch die Ziele des „magischen Vierecks“ (Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung, angemessenes Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) und – ganz entsprechend dem Keynesianischen Ansatz – durch die Verpflichtung der Regierung zur antizyklischen Gestaltung der Finanzpolitik. Hinzu kam die vom damaligen Wirtschaftsminister, Karl Schiller, initiierte „konzertierte Aktion“ (Gespräche zwischen Regierung, Gewerkschaften und Verbänden zur „konjunkturgerechten“ Verteilung des Sozialprodukts).
Damit verabschiedete man sich endgültig vom ordoliberalen Denken. Obwohl die Krise von 1966/67 schnell überwunden war, wird man kaum sagen können, dass dies die Effektivität der Keynesianischen Maßnahmen belegt. Erste vermeintliche Erfolge dieser Politik wurden zudem schnell vom Ölpreisschock, Stagflation sowie dem Anwachsen der Arbeitslosigkeit - verbunden mit steigender Staatsverschuldung - zunichte gemacht. Zwar war damit das Keynesianische Konzept schnell gescheitert, die neue hervorgehobene Position, welche sich der Staat im deutschen Wirtschaftsprozess geschaffen hatte, behielt er jedoch bei, gerade auch in den Augen der deutschen Bevölkerung, welche noch heute im Staat den Hauptverantwortlichen für eine zufrieden stellende wirtschaftliche Entwicklung sieht.
Den Gegensatz zwischen Keynesianismus und Liberalismus zeigt der moderne Keynes vs. Hayek Rap Battle "Fear the Boom and Bust":
Insbesondere bezüglich der Definition staatlicher Aufgaben veränderte Deutschland sich stark: Der Staat ist nicht mehr vorwiegend protektiv und produktiv tätig, sondern hat einen erheblichen distributiven Gestaltungsauftrag an sich gezogen. Dieser Gestaltungsauftrag ist durch die Verfassung nur schwer eingrenzbar und hat Interessengruppen zunehmende Einflussmöglichkeiten erlaubt. Die Konsequenzen für den Bürger werden beispielsweise durch einen Vergleich der Brutto- und Nettoeinkommen innerhalb der letzten 50 Jahre deutlich: Während ein Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1950 lediglich 243 DM im Monat verdiente, von denen er 11 DM Lohnsteuer und 19 DM Arbeitnehmerbeiträge zu den Sozialversicherungen abzuführen hatte (12,3%), war das Durchschnittsgehalt im Jahre 1999 bereits auf 4.270 DM monatlich gestiegen, jetzt waren aber Steuern und Sozialabgaben von 36,5% fällig.
Diese Entwicklung ist nicht überraschend. Wie sich eine Privatrechtsgesellschaft zu einem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat entwickeln kann, hat der amerikanische Ökonom Mancur Olson eindrucksvoll dargestellt. Seine Theorie des kollektiven Handelns zeigt, dass die Organisierbarkeit der Interessen in einer Gesellschaft stark von der Größe der betroffenen Gruppe und den Anreizen innerhalb derselben abhängt. Je größer eine gesellschaftliche Gruppe ist, umso geringer ist der Anteil des Einzelnen am Gewinn dieser Gruppe, für die er sich einsetzt. Der Anreiz für dieses Engagement ist demnach recht gering. Deshalb werden politische Unternehmer, die kollektives Handeln zu organisieren suchen, eher erfolgreich sein, wenn sie relativ kleine und homogene Gruppen organisieren. Bei einem Mangel an selektiven Anreizen nimmt deshalb der Anreiz zum Gruppenhandeln mit zunehmender Gruppengröße ab. Deshalb sind es kleine Gruppen, die durch Lobbyismus die herrschenden Politiker unter Druck setzen können, Ressourcen umzuleiten, um ihnen einen höheren Anteil am Sozialprodukt zu sichern. Es gibt kein Land, das eine symmetrische Organisation aller Gruppen mit einem gemeinsamen Interesse erreicht und so durch umfassende Verhandlungen „optimale“ Ergebnisse findet. Stattdessen wird es in stabilen Gesellschaften im Laufe der Zeit zu einer Akkumulation von Kollusionen und Organisationen für kollektives Handeln kommen.
So kommt es zu einer weitgehenden Veränderung des institutionellen Rahmens in Marktwirtschaften, auch in der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland: Durch die wachsende Anzahl interventionistischer Eingriffe in den Wirtschaftsprozess kann von einer Konstanz der Wirtschaftspolitik immer weniger gesprochen werden. Das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik sinkt. Die Funktionsfähigkeit des Preissystems wird durch eine Großzahl von direkten und indirekten Markteingriffen erheblich vermindert. Dazu gehören beispielsweise Mindestpreise (z.B. auf dem Arbeitsmarkt), aber auch Subventionen für bestimmte Wirtschaftszweige. Besonders durch die Subventionierung stagnierender oder schrumpfender Industrien, die eigentlich einen Großteil ihrer Belegschaft freisetzen müssten, können die Politiker Stimmen gewinnen. Dadurch verzerren sie aber auch das Preissystem. Eine weitere Möglichkeit zum Schutz dieser Industrien liegt in der Schaffung von Importbeschränkungen verschiedenster Art. Dadurch werden aus ehemals offenen Märkten geschlossene Märkte mit oligopol- oder monopolähnlichem Charakter. Die so verzerrten Marktergebnisse sind häufig wiederum politisch nicht wünschenswert, so dass weitere staatliche Eingriffe wegen so genanntem „Marktversagen“ notwendig werden. Diese können erneute Subventionierungen oder Preisverzerrungen sein, aber auch Beschränkungen der Vertragsfreiheit. Durch eine zunehmende Umverteilung und soziale Absicherung verringert sich auch der Umfang der Haftung, die der einzelne für seine Handlungen tragen muss. So ziehen wirtschaftlich „falsche“, weil nicht erfolgreiche Entscheidungen von Individuen oder Unternehmen sofort das Begehren der betroffenen Gruppe nach staatlichem Ausgleich nach sich, insbesondere wenn es sich um gut organisierte Gruppen handelt.
Kommt es zu einer Zunahme der Komplexität des Systems indirekter Begünstigung und Regulierung, wächst auch der Bedarf nach Verwaltung und Bürokratie. Die Lobbytätigkeit der organisierten Partikularinteressen und die Versuche der Politiker, intransparente Umverteilungsmechanismen zu etablieren, lassen den Umfang der Staatstätigkeit ansteigen. Das führt zu einer erhöhten Produktionstätigkeit des Staates sowie zu deren Finanzierung zu einer verstärkten Besteuerung der privaten Einkommen und Vermögen. Dadurch wird aber der Anreiz zu einer Abwanderung in die Schattenwirtschaft oder andere Wirtschaftssysteme (Osteuropa, Ostasien, USA etc.) immer größer. Außerdem sinkt die Bereitschaft und Fähigkeit der Bürger zu sparen, was auch eine geringere Investitionstätigkeit impliziert.
Das Wachstum von Verteilungskoalitionen und politischen sowie ökonomischen Kollusionen, die Zunahme von Staatstätigkeit und die zunehmende Komplexität der Umverteilungsmechanismen verändert die Anreizstruktur in einer Gesellschaft. So kann beispielsweise durch eine hohe Steuerbelastung der Anreiz zu produzieren verringert werden, der Anreiz, einen höheren Anteil am Produzierten zu erlangen, hingegen zunehmen. Die positiven Sanktionen für Leistung im Sinne von erbrachter Marktleistung nehmen dann ab, während sie für Leistung im Sinne von Umgehung und Ausnutzung staatlicher Umverteilung und Regulierung zunimmt. Eine solche Veränderung der Anreize in einer Gesellschaft lenkt aber deren Evolution in eine falsche Richtung. Das Ergebnis ist dann keine Gesellschaft mehr, welche die Schwachen, Mittellosen und weniger Begabten begünstigt. Den Nutzen aus dem System ziehen vielmehr die besser Angepassten, d.h. jene, die den Wohlfahrtsstaat am besten für sich ausnutzen können. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen fördern demnach eine Mentalität, die durch Anspruchsdenken und Risikoaversion gekennzeichnet ist. In einem Wohlfahrtsstaat kommt es somit zu vielen Fehlanreizen und Fehlallokationen. Wettbewerbliche Selbstkontrolle und mit ihr die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des ökonomischen Systems werden nachteilig beeinflusst.
Der Wohlfahrtsstaat ist gegenwärtig in der Diskussion in Europa. Allerdings auch bei Einsicht in das Notwendige befinden sich die regierenden Politiker in einer Dilemmasituation; ihre Reforminitiativen können von Seiten der Opposition immer mit dem Argument des „Abbaus des Sozialstaates“ oder mangelnder „Sozialverträglichkeit“ zum eigenen politischen Vorteil verhindert oder eingeschränkt werden. Die Reform eines Wohlfahrtsstaates ist daher ein schwieriges Unterfangen. Gerade der Prozess der Globalisierung, der internationale Wettbewerb um Kapital und Wissen erhöht aber den Druck auf alle wohlfahrtsstaatlichen Systeme und damit auf die dort regierenden Politiker so sehr, dass auch in Deutschland über kurz oder lang eine tiefgehende Reform durchgeführt werden wird.
Quellen / Literatur:
Bernholz, Peter - Einige Bemerkungen zur Theorie des Einflusses der Verbände auf die politische Willensbildung in der Demokratie, in: Kyklos, Bd. 22 (1969), S. 276-288.
Bernholz, Peter - Causes of Change in Political-Economic Regimes, in: Lüder Gerken (Hrsg.): Competition among Institutions, Freiburg 1995, S. 65-88.
Olson, Mancur - The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge 1965.
Olson, Mancur - Aufstieg und Niedergang von Nationen – Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, 2. Auflage, Tübingen 1991.
Seliger, Bernhard - Die Krise der sozialen Sicherung und die Globalisierung – Politische Mythen und ordnungspolitische Wirklichkeit, in: ORDO Jahrbuch 2001, S. 215-238.
Seliger, Bernhard - The Second Advent of Eurosclerosis? The Problematic Future of the European Union, in: Korean Journal of EU Studies, Vol. 6 (2001), Nr. 1, S. 151-192.
Die "Geistig-Moralische Wende" von 1982
Erst zu Beginn der 1980er Jahre kam es zu einer Regierung, welche den Keynesianismus ablehnte und wieder eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgte. Die Regierung unter Helmut Kohl konnte durch eine zurückhaltende Finanzpolitik bis zur Zeit der Deutschen Vereinigung die staatliche Schuldensituation verbessern. Die Nettokreditaufnahme des Bundes sank bereits 1982 deutlich, die Staatsquote konnte in den kommenden Jahren kontinuierlich gesenkt werden. Andererseits wurden zwei entscheidende wirtschaftspolitische Bereiche fast unberührt gelassen: die soziale Sicherheit und der Arbeitsmarkt. Gerade auf diesen Gebieten haben aber die Hauptkonkurrenten Deutschlands im internationalen Standortwettbewerb (z.B. Großbritannien) damals Interessengruppen zerschlagen und Reformen durchgeführt. In Deutschland gelang es diesen besonderen Interessengruppen hingegen sogar, ihre Machtpositionen auszubauen. Damit muss die „Wende“ von 1982 aus ordnungspolitischer Sicht zumindest teilweise als gescheitert betrachtet werden.
Auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurden ordnungspolitische Ansätze nicht aktiviert, man übertrug lediglich das sklerotisierte westdeutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf die neuen Bundesländer. Nach einem kurzen „Vereinigungsboom“ traten deshalb die strukturellen ökonomischen Probleme wieder in den Vordergrund. Eine Rückbesinnung auf das ordoliberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft lässt seitdem weiter auf sich warten.
Agenda 2010 (2002 – 2005)
Nachdem die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder 1998 Reformansätze der Vorgängerregierung wieder rückgängig gemacht hatte, hat sie in der zweiten Legislaturperiode ein heftig umstrittenes Reformpaket unter dem Namen „Agenda 2010“ entworfen. Die drei wichtigsten Bereiche der Agenda 2010 sind eine Steuerreform, eine Rentenreform und eine Gesundheitsreform. Damit ist das Konzept vordergründig recht umfassend und ehrgeizig.
2004 wurde ein erster Schritt der Steuerreform durchgeführt und der Eingangssteuersatz auf 16 Prozent sowie der Spitzensteuersatz auf 45 Prozent verringert. Im folgenden Jahr sanken diese Sätze auf 15 bzw. 42 Prozent. Die Steuerersparnis für die Bürger wurde von der Regierung mit ca. 21,5 Milliarden Euro angegeben.
Die Rentenreform der Agenda 2010 besteht insbesondere aus einer kurzzeitigen Aussetzung der Rentenanpassungen mit dem Ziel, den Rentenversicherungsbeitrag bei 19,5 Prozent zu stabilisieren, sowie einer langfristigen Modifikation der Renten mit Hilfe eines so genannten „Verträglichkeitsfaktors“. Letzteres bedeutet aber nichts anderes als eine Anpassung der Renten an die Entwicklung der Löhne, also langsamer ansteigende Renten. Im Hinblick auf die schnell anwachsende Bevölkerung gibt es keine andere Möglichkeit als die einer radikalen Reform. Es ist jedoch paradox, dass diese Veränderungen bereits vor dem Regierungswechsel 1998 geplant wurden und dann von derselben Regierung gestoppt wurden, die sie heute im Rahmen der Agenda 2010 propagiert.
Auch im Gesundheitswesen wurden bereits 2004 erste Reformschritte durchgeführt, die allerdings mit ihrem Ziel einer Senkung des durchschnittlichen Krankenversicherungsbeitrages von 13,6 Prozent auf weniger als 13 Prozent scheiterten. Der Abbau staatlicher Bürokratie sowie Maßnahmen, welche gleichzeitige Berufstätigkeit und Kindererziehung von Müttern erleichtern sollen, sind andere Aspekte der Agenda 2010.
Die Agenda 2010 ist zweifellos die wichtigste Reform der Regierung Schröder, aus ordnungspolitischer Sicht aber lediglich ein Anfang und in vielerlei Hinsicht nicht viel versprechend. Eine umfassende Umwandlung aller reformbedürftiger Bereiche, des Arbeitsmarktes, des Rentensystems und des Gesundheitswesens, ist nicht erreicht worden. Gerade weil nur die Finanzierbarkeit bestimmter Maßnahmen diskutiert wird, wird ein entscheidender Aspekt des Problems ausgeblendet: die richtige Zielsetzung! Zuerst müssen die Reformen dazu beitragen, wieder ein funktionsfähiges Preissystem zu etablieren, die Märkte zu öffnen, wirtschaftliche Freiheit und entsprechende Haftungsregeln zu etablieren. Dort, wo private Märkte wie z.B. der Versicherungsmarkt besser funktionieren als ein verkrustetes wohlfahrtsstaatliches System, wird im Falle einer klaren Liberalisierung weniger bzw. gar keine öffentliche Unterstützung mehr benötigt. Fast immer haben Deregulierungen in diesen Bereichen mehr Erfolg als umfangreiche staatliche Ausgabenprogramme.
Hier ein Bericht über die Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur "Agenda 2010" vom 14.3.2003:
Hartz-Gesetzgebung (2003 – 2005)
Zur Reform des Arbeitsmarktes – oder besser gesagt zur Reform der Arbeitslosenverwaltung – wurde von der Regierung Schröder eine Kommission unter Vorsitz des VW-Managers Peter Hartz eingesetzt. Die so genannte Hartz-Kommission erarbeitete folgende Vorschläge, welche in 3 Stufen eingeführt wurden:
Im Januar 2003 wurden die so genannten Hartz I und Hartz II Gesetze erlassen. Sie erleichterten und unterstützten die „Ich-AG“ finanziell. Außerdem bewirkten sie, dass geringfügige Beschäftigung steuerfrei ist und bis zu einem gewissen Verdienst auch keine Sozialabgaben verlangt werden. Über dieser Grenze wird das Einkommen stufenweise versteuert, bis der normale Satz erreicht ist. Auch werden Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt. Momentan stehen 7,6 Millionen Menschen in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis. Es ist paradox, dass die Regierung Schröder, welche die steuer- und sozialabgabenfreie Beschäftigung ursprünglich stark kritisiert hat, diese jetzt als eine der Hauptstützen im Kampf gegen die hohe Arbeitslosenquote darstellt.
Im Januar 2004 wurde mit Hartz III ein Gesetz zur Arbeitsmarktreform erlassen, welches wesentliche Verbesserungen bedeutet, v.a. weniger unflexible Kündigungsbedingungen und eine Senkung der Ansprüche auf Arbeitslosenunterstützung. Damit wurde erstmals seit langem erkannt, dass ein umfassender Kündigungsschutz Einstellungen verhindert. Die durchgeführten Maßnahmen waren aber noch unzureichend und führten daher kaum zu einer deutlichen Senkung der Arbeitslosenquote in Deutschland. Durch Hartz III sollte auch eine Verbesserung der Arbeitsverwaltung stattfinden. Die Bundesanstalt für Arbeit war in dieser Zeit von Skandalen überschattet, u.a. durch Unregelmäßigkeiten bei der statistischen Erfassung von vermittelten Arbeitslosen. Die neue Bundesagentur für Arbeit soll sich auf die Vermittlung von Arbeitslosen auf offene Stellenangebote konzentrieren und nicht auf die Berechnung von Arbeitslosengeldansprüchen. Der Erfolg dieser Umstrukturierung ist jedoch zweifelhaft. Lediglich durch eine Umbenennung – und vielleicht Umstrukturierung - der umfangreichen Arbeitsverwaltungs-Bürokratie wird jedoch keine Verwaltungseffizienz garantiert. Außerdem werden dadurch keine neuen Stellen in Deutschland geschaffen.
Hartz IV, der letzte Teil des Reformpaketes für den Arbeitsmarkt, wurde in Januar 2005 als Gesetz verabschiedet. Es handelt sich dabei um den bedeutendsten und anspruchvollsten Teil der Reform. Seit Januar 2005 gibt es keine doppelte Bürokratie mehr, um Arbeitslosenhilfe (für Langzeitarbeitslose) und Sozialhilfe (für alle anderen) zu verwalten. Hinzu kamen auch Kürzungen bei den Unterstützungsleistungen. Die Beratung für Arbeitslose soll parallel verstärkt werden. Wichtiger noch ist das Konzept „Fördern und Fordern“, das es erlaubt, Arbeitslosen, die nicht gewillt sind eine angemessene Arbeit aufzunehmen, die Leistungen zu reduzieren oder sogar auszusetzen. Natürlich ist es schwierig, den Begriff „angemessene Arbeit“ konkret zu definieren. Bisher war aber die mangelnde Bereitschaft vieler Arbeitsloser, eine schlechter entlohnte Arbeit als bisher anzunehmen, einer der Gründe, warum es nicht gelang, viele Arbeitslose wieder in Arbeit zu bringen.
Die Hartz-Gesetzgebung war sicherlich ein richtiger und wichtiger Schritt zur Reform des deutschen Wohlfahrtsstaates. Sie war jedoch in kein Gesamtkonzept eingebettet, denn auch die Agenda 2010 war nur Stückwerk. Damit konnte die Hartz-Gesetzgebung aber kaum wirken. Ganz im Gegenteil, dort wo kaum freie Arbeitsplätze vorhanden waren, z.B. im Osten Deutschlands, bewirkte gerade Hartz IV erhebliche Widerstände. Diese Art der Arbeitsmarktreform hätte sich bedeutend leichter umsetzen lassen, wenn parallel das Angebot an freien Stellen deutlich verbessert worden wäre, z.B. durch eine umfassende Steuerentlastung für Mittelständler. Als singuläre Reformmaßnahme stellte Hartz IV jedoch nur einen Stolperstein für die Regierung Schröder dar.
Quellen / Literatur:
Bundesregierung (2004) Agenda 2010, im Internet: http://www.bundesregierung.de/ en/News-by-subject/Agenda-2010-,11608/Agenda-2010-an-overview.htm (Zugriff am 15.2.2005).
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2004) Jahresgutachten 2004/2005, Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland, o.O.
Seliger, Bernhard (2001) Reforming the Welfare State: German and European Experiences and Challenges, in: International Area Review, Bd. 4, Nr. 1, S. 63-87.
Wünsche, Horst-Friedrich (2005) Vom Koalitionsvertrag zur Regierungserklärung: Schritte zur Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft?, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft 106, Dezember 2005, S. 11-17.
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 war und ist noch heute eine enorme Herausforderung an die deutsche Wirtschaftspolitik. Dass der Transformationsprozess im Osten Deutschlands nicht mit der Einführung der Deutschen Mark im Sommer 1990 und der mit wenigen Ausnahmen vollständigen Übertragung des westdeutschen Wirtschafts- und Rechtssystems abgeschlossen sein würde, war klar. Allerdings wurden grundsätzliche ordnungspolitische Fehler begangen – und bis heute weitergeführt!
Die Entwicklung in Ostdeutschland zeigt ein Video des Instituts der deutschen Wirtschaft zum Thema "Ostdeutschland - 25 Jahre nach der Wende"
Mit immensen Transferleistungen aus Westdeutschland versuchte bereits die Regierung Kohl (bis 1998) die zusammengebrochene ostdeutsche Wirtschaft wieder zu beleben. Jedoch war der Aufschwung in Ostdeutschland nur von kurzer Dauer. Ungefähr zig hundert Mrd. Euro wurden lediglich zu konsumptiven Zwecken ausgegeben und nicht in neue Infrastruktur oder Ausbildung investiert. Deshalb beträgt das Einkommensniveau in Ostdeutschland heute zwar ca. 90 Prozent des Westens, das Bruttoinlandsprodukt liegt jedoch pro Kopf lediglich bei 65 Prozent. Diese Lücke ist auch weiterhin durch Transfers zu finanzieren. Die ostdeutsche Wirtschaft wurde so jedoch in eine dauerhafte Abhängigkeit getrieben und zur „Almosenwirtschaft“ degradiert.
Es ist insbesondere bedauerlich, dass im Rahmen der deutschen Vereinigung nicht die „Gunst der Stunde“ genutzt wurde, das nun gesamtdeutsche Rechts- und Wirtschaftssystem zu „entrümpeln“ und zu vereinfachen. So konnte natürlich kein flexibles marktwirtschaftliches System in den neuen Bundesländern entstehen. Stattdessen wurden die in Jahrzehnten westdeutscher „Verwohlfahrtsstaatlichung“ angesammelten Vorschriften und Regulierungen bis auf wenige geringe Ausnahmen komplett auf Ostdeutschland übertragen. Institutionen, also rechtliche Regelungen und persönliche Verhaltensweisen, eines sklerotisierten Wohlfahrtsstaates trafen auf die Überreste der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft. Hier haben andere mittelosteuropäische Staaten erfolgreichere Strategien entwickelt. In Ermangelung eines „großen Bruders“ bestand hier ein deutlicher Zwang zu klar marktwirtschaftlichen Reformen. Länder wie Estland, die Tschechische Republik u.a., die sich einer radikalen Marktkur unterzogen, verzeichnen daher heute höhere Wachstumsraten als die neuen Bundesländer im Osten Deutschlands. Hier herrscht auch keine Krisenstimmung mehr, ganz im Gegenteil.
Im Osten Deutschlands haben Millionen Menschen während des Umgestaltungsprozesses ihre Arbeit verloren. Sie wurden jedoch durch das hohe Lohnniveau und die Dichte der Vorschriften gehindert, neue Arbeitsstellen zu finden. Da die Kosten der Arbeitslosigkeit sowie alle Sozialleistungen von der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung finanziert werden müssen, stieg auch deren Belastung in Form höherer Steuer- und insbesondere Sozialabgaben. Zwar konnten die Bruttolöhne in den vergangenen Jahren auch weiter ansteigen, damit aber auch die Arbeitskosten, so dass deutschlandweit zunehmend mehr Menschen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Das Ergebnis sind enorme Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands. Diese können zwar als „erfolgreiche passive Sanierung“ verstanden werden, zeigen aber eher deutlich das Scheitern der bisherigen Subventionspolitik.
Die deutsche Vereinigung von 1990, genauso wie die Transformation der übrigen sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften, war weder von Wissenschaftlern noch von Politikern erwartet und vorbereitet worden. Die politischen Zwänge die sich aus der Gefahr der Massenabwanderung in den Westen Deutschlands ergaben, brachten die Politik bei der Währungsunion sowie bei der Einführung des neuen Sozialsystems in eine Zwangslage, die viele wirtschaftspolitisch problematischen Entscheidungen als politisch unumgänglich erscheinen ließ. Dennoch kann damit die fortdauernde Subventionswirtschaft in den neuen Bundesländern nicht gerechtfertigt werden. Die wirtschaftspolitische Krise Deutschlands, insbesondere in den neuen Bundesländern, ist seit den 1990er Jahren zudem durch ein verändertes internationales Umfeld gekennzeichnet. Globalisierung und EU-Erweiterung setzten die deutsche Wirtschaft stärker als bisher unter Druck. Unternehmen nutzten die Chancen der Abwanderung – und sicherten damit auch Arbeitsplätze auch im Inland! Die deutsche Wirtschaftspolitik steht diesen Gegebenheiten jedoch immer noch hilflos gegenüber. Statt die Chancen der zunehmenden Internationalisierung zu nutzen, wurden Globalisierung und EU-Osterweiterung zu Schreckgespenstern. Aufgrund des deutschen Reformstaus stieg die Arbeitslosigkeit tatsächlich immer weiter an. Der Anfang der 1990er Jahre initiierte Aufholprozess im Osten Deutschlands kam damit vollständig zum erliegen. Parallel zu einer allgemeinen Reform des deutschen Wohlfahrtsstaates muss daher auch eine Reform des „Aufbaus Ost“ erfolgen. Die bisherigen Ansätze entsprachen nicht den Grundsätzen einer marktwirtschaftlichen Transformationspolitik, sondern dem alten westeuropäischen Wohlfahrts- und Umverteilungsgedanken.
Quellen / Literatur:
Seliger, Bernhard; Wrobel, Ralph (2000) German Unification: the Valuable Lessons, in: The Baltic Review – Quarterly Magazine, Vol. 20, 2000, S. 8 – 11.